Wie beeinflusst der Tourismus die Impfgerechtigkeit? Ein Interview mit Tourism Watch
Die voranschreitenden Impfungen wecken Hoffnungen. Für viele Reisende scheint die ersehnte Urlaubsreise zum Greifen nah. Doch wie sehen Impffortschritte und -strategien in den Destinationen aus und beeinflusst die Impfgeschwindigkeit ihre Position auf der touristischen Weltkarte?
Diese Fragen werden in der aktuellen Newsletter-Ausgabe von Tourism Watch, der Fachstelle von Brot für die Welt aufgegriffen.
Vera Dwors, agl-Bundeskoordinatorin für Internationale Partnerschaften hat mit Antje Monshausen von Tourism Watch ein Interview über Impfgerechtigkeit im Tourismus geführt:
Liebe Antje, danke, dass du dir heute Zeit genommen hast und wir über ein Thema sprechen, was in den vergangenen Monaten immer Mal wieder im Vordergrund stand und vor allem jetzt im Sommer eine Rolle spielt: Das Reisen. Bei uns in NRW sind bereits Ferien, die anderen Bundesländer sind auch nach und nach an der Reihe. Dennoch steht die COVID-19 Pandemie unserer unbeschwerten Urlaubsplanung weiterhin im Weg – vor allem, wenn es zur Erholung ins Ausland gehen soll. Es gibt eine Testpflicht bevor wir in den Flieger steigen oder Quarantäneregeln nach der Heimkehr.
Unsere Ziele in Europa und vor allem in den Ländern des Südens stehen vor noch viel größeren Herausforderungen – daher die erste Frage an dich: Was bedeutet die Corona-Krise für den weltweiten Tourismus und für die Menschen, die in dem Sektor arbeiten?
Weltweit hängt jeder zehnte Arbeitsplatz am Tourismus – dazu zählen die direkten Anstellungen, genau wie die nach- und vorgelagerten Tätigkeiten. Das sind beispielsweise die Taxifahrer*innen, Jobs in den Wäschereien und sonstigen Zulieferbetrieben, welche direkt oder indirekt vom Tourismus abhängen. Da sehen wir gravierende Einbrüche in einer Größenordnung von 100 bis 120 Millionen Jobverlusten, die der Branche drohen – und das von derzeit schätzungsweise 300 bis 360 Millionen Arbeitsplätzen im Reisegewerbe.
Wenn wir genauer hinschauen, sehen wir, dass vor allem die informellen Jobs weggefegt wurden. Diese machen immerhin einen Anteil von fast 50 Prozent aus. Das sind jetzt die Menschen, die keinerlei soziale Absicherung haben und nicht auf staatliche Hilfen zugreifen können. Viele sind deshalb mittlerweile vom Tourismus abgewandert und versuchen sich in anderen Sektoren. Das wird langfristig einen Fachkräftemangel zur Folge haben, da sicher nicht alle zurückkehren. Auch wenn das eher in Europa der Fall ist, werden auch Veränderungen in Ländern im Globalen Süden erwartet. Dort hören beispielsweise Taxi- oder Tucktuckfahrer*innen, kleine Restaurants, auf. Damit geht eine wichtige Ergänzung zu den formellen Angeboten verloren. Die Reisenden wünschen und erwarten jedoch dieses authentische Flair in ihrem Urlaubland. Da wächst tatsächlich die Sorge der Touristikunternehmen.
Klar können wir auch auf die Haben-Seite schauen und beobachten durch den Wegfall von fast 75 Prozent des Flugverkehrs positive Entwicklungen, was beispielsweise den weltweiten CO²-Ausstoß angeht. Das wird nur leider nicht dauerhaft der Fall sein, da nach einem hoffentlich baldigen Ende der Pandemie die weltweiten Reisen wieder eine große Rolle spielen werden. Und mit Blick auf den Umweltschutz dürfen wir auch einen weiteren Aspekt nicht vergessen: Tourist*innen bringen Geld in Naturschutzgebiete und können damit zum Erhalt dieser Flächen beitragen.
Der Fachkräftemangel – das ist ein spannender Aspekt. Auch wenn wir den informellen Sektor und die extrem unsichere Situation der dort arbeitenden Menschen im Blick haben, haben wir das noch nicht bedacht. Eine weitere langfristige Folge der Pandemie.
Wie siehst du es denn mit Blick auf die Impfungen? In Deutschland sind bis jetzt (Stand Juli 2021) zirka 50 Prozent der Bevölkerung geimpft. In unseren internationalen Netzwerken führen wir zunehmend Diskussionen über die gerechte Verteilung der Vakzine. Was bedeutet das für den Tourismussektor und für die Länder, die vom Tourismus abhängig sind?
Die Weisheit „Corona ist erst vorbei, wenn es für alle vorbei ist“, trifft für den Tourismus noch einmal besonders zu. Wir sehen, dass ein großer Teil der Vakzine in den Ländern des reichen Nordens verbleiben. Global gesehen liegt die Quote der vollständig Geimpften derzeit bei 10 Prozent. Das ist genau der Stand, den Deutschland im März 2021 erreicht hat. Zu der Zeit standen die besonders vulnerablen und systemrelevanten Gruppen im Mittelpunkt. Heute werden bei uns auch gesunde und jüngere Menschen geimpft, während in Ländern des Südens die Impfstoffe noch nicht einmal für die besonders gefährdeten und exponierten Teile der Bevölkerung ausreichen. Dabei geht die WHO davon aus, dass mit den Milliarden bisher verteilter Impfdosen, alle alten Menschen sowie das Personal im Gesundheitsbereich weltweit hätten geschützt werden können. Stattdessen ist der Impffortschritt bei uns enorm – und das auch, damit wir wieder unbeschwert reisen können.
Umfragen haben ergeben, dass der Stellenwert des Themas Sicherheit bei den Reisenden stark gestiegen ist. Die Menschen wollen dahin reisen, wo sie sich auch zu Pandemiezeiten sicher fühlen. Einige Zielländer versuchen das zu berücksichtigen und haben mittlerweile damit begonnen, vor allem im Tourismussektor zu impfen.
Also sind Impfquoten mittlerweile zum Wettbewerbsvorteil geworden? Regt sich da kein Widerstand bei den Menschen, die so noch weniger Chancen auf eine baldige Dosis haben?
Länder, die eine hohe Abhängigkeit vom Tourismus haben – wie beispielsweise die kleinen Inselstaaten – impfen prioritär im Tourismussektor. Teile der Karibik oder der afrikanischen Inseln wie die Malediven und die Seychellen haben eine vergleichsweise hohe Impfquote. Das liegt einerseits an der geringen Bevölkerung dieser Region, jedoch auch an einer völlig anderen „Impfdiplomatie“. Es gibt weniger Ressentiments gegenüber China oder Russland und deren Impfstoffen. Die Seychellen haben beispielsweise eine Impfquote von 70 %. Trotzdem besteht weiterhin ein Risiko – immerhin ist ein Drittel der Bevölkerung noch nicht geimpft. Und selbst eine Erkrankung in abgeschwächter Form kann in einem Land mit schlechter aufgestelltem Gesundheitssystem schwere Folgen haben. Ein anderes Beispiel ist Ägypten. Ein Land mit einer Impfquote von bisher nur einem Prozent – hier hat der Tourismus Priorität. Das Hotelpersonal gilt dort als besonders exponiert und gefährdet. Das ist absurd, wenn dadurch alte Menschen und die im Gesundheitssystem Beschäftigten nicht zuerst geschützt werden können.
Regt sich da kein Widerstand? Die Diskussionen um diese ungerechte Verteilung der Impfstoffe und die Forderung nach einer Freigabe der Patente bleiben doch laut?
Was wir wahrnehmen ist, dass die Menschen in den besonders vom Tourismus abhängigen Regionen oftmals froh sind, dass sie wieder Einkommen erwirtschaften können. Und da dürfen wir auch nicht zynisch sein – diese hohe Abhängigkeit hat sich in den letzten Jahren auch durch unser Reiseverhalten verstärkt. Alles, was wir vor Corona gesehen haben, ist weiter da. Auch jetzt haben großen Hotelketten eher die Möglichkeit, Impfkampagnen für ihr Personal und die umliegenden Betriebe zu starten. Die Versorgung der kleinen Anbieter*innen ist dadurch nicht gesichert. Die Folge: Hotels nehmen weniger die externen, unabhängigen Angebote in Anspruch, da sie lieber auf eigene, sichere und Geimpfte zurückgreifen. Das fördert das All-Inklusive Modell, alles sicher aus einer Hand. Dabei reicht es nicht aus, wenn Tourist*innen kommen – sie müssen das Hotel auch verlassen und dort Tourguides buchen oder kleine Restaurants und Märkte besuchen. Tourismus braucht die Möglichkeit sicherer Begegnungen.
Wo siehst du den Weg aus diesem Dilemma? Stecken da trotzdem Chancen drin? Welche Möglichkeiten hat der Tourismus in den Ländern des Südens?
Es ist tatsächlich schwer, derzeit Chancen zu erkennen. Die Auswirkungen der Pandemie auf den gesamten Sektor sind einfach zu dramatisch. Ein kleiner, positiver Zeiger scheint jedoch auch im Tourismussektor auszuschlagen, wenn wir auf die aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurse und auch auf die Entwicklungszusammenarbeit schauen. Wie können wir unser Wirtschaften nachhaltiger gestalten und damit auch resilienter? Und die Diskussion darum, wie unsere Wirtschaft im Falle einer Krise überlebensfähig bleibt? Tourismus ist ein Teil einer Volkswirtschaft und darf nicht die allein tragende Säule sein. Denn nur so verhindern wir diese drastischen Konsequenzen, wenn es zu erneuten Ausfällen in der Reisebrache kommen sollte. Diese Diskussion ist schon lange überfällig. Länder des Südens erleben immer wieder, dass auf Grund externer Schocks der Tourismussektor einbricht. Wenn in den Medien über politische Unruhen oder über hohe Kriminalitätsraten berichtet wird, bleiben internationale Gäste weg. In der aktuellen globalen Dimension durch die Pandemie erleben wir das zum ersten Mal selber. Wir brauchen auf der ganzen Welt eine Diskussion darüber, dass Tourismus nicht nur nachhaltiger, sondern auch resilienter gestaltet wird. Da spielt die Stärkung des nationalen und regionalen Reisens eine Rolle. Und es ist wichtig, dass diese enorme Saisonalität in der Branche aufgehoben wird. Da sehe ich Chancen.
Können wir als Reisende hier in NRW auch etwas dazu beitragen, dass nicht nur unbeschwerter Urlaub für uns möglich ist, sondern auch die Gesundheit und das Einkommen der Menschen im Süden sicher sind?
Ich sehe hier das ganz ganz große Bedürfnis der Menschen, wieder reisen zu können und den alten Tourismus zurück zu bekommen. Gleichzeitig ist jedoch auch die zunehmende Sensibilisierung zu erkennen, dass wir nicht zum alten Konsumverhalten zurückehren. Beides wird bleiben. Es gibt eine erhöhte Nachfrage nach verantwortungsvollem Reisen und gleichzeitig auch den Wunsch, einfach unbeschwert abschalten zu können. Das Thema Flugscham wird wieder kommen zugleich auch die Diskussion um Overtourism. Corona wird keinen der Trends, die es vor der Pandemie gab, abschaffen – im Positiven, wie im Negativen.
Ein ganz deutlicher Apell noch zum Schluss: Wir dürfen den Fokus nicht nur auf unsere eigene Sicherheit legen. Es geht nicht nur um die Quarantäne nach unseren Ferien. Auch wenn wir durchgeimpft sind, ist es so wichtig, auf Reisen besonders vorsichtig zu sein, Rücksicht zu nehmen und die Regeln einzuhalten. Durch Selbstisolation vor dem Urlaub und regelmäßige Tests können wir dazu beitragen, die Ausbreitung des Virus an unserem Zielort zu verhindern. Wir reisen im Zweifel fast überall auf der Welt in fragilere Gesundheitssysteme – deswegen sollten wir uns überall so verhalten, als wären wir bei einem Freund, einer Freundin zu Besuch, der oder die keinen Zugang zu einer Impfung haben.
Antje Monshausen, Fachstelle Tourism-Watch bei Brot für die Welt
Tourism Watch engagiert sich als Fachstelle von Brot für die Welt gemeinsam mit ökumenischen Partner*innen aus aller Welt für einen nachhaltigen, sozial verantwortlichen und umweltverträglichen Tourismus.
Auf der Internetseite www.tourism-watch.de gibt es spannende Artikel im „Informationsdienst 105“ zum Thema Impfgerechtigkeit im Tourismus.